Kirche ohne Kirchensteuer - Vielseitige Eindrücke aus Brasilien

Autor
Deutsche Ordensprovinz der Dehonianer SCJ
Datum
11.3.24

Provinzial Pater Stefan Tertünte SCJ ist zu einem längeren Besuch in Brasilien. Die Ziele seiner Reise: erstens, die Besuche bei den Familien der brasilianischen Mitbrüder, die in Deutschland leben und wirken; in verschiedenen Ausbildungshäusern berichtet er über die dehonianische Mission in Deutschland, um bei den Studenten den Horizont zu weiten und eventuell Interesse zu wecken; schließlich stehen Gespräche mit den Provinzleitungen von Südbrasilien und Brasilien Sao Paulo auf seinem Plan.

Je länger die Reise dauert und je mehr Kontakte zu Mitbrüdern und Gläubigen in den Pfarreien entstehen, umso vielschichtiger wird das Bild, das P. Tertünte von Brasilien gewinnt. Sei es in  Taubaté, wo an der „Dehonianischen Fakultät“ außer den Herz-Jesu-Priestern noch Mitglieder anderer Ordensgemeinschaften und Priesteramtskandidaten aus verschiedenen Bistümern Philosophie und Theologie studieren: Bei der Feier zum 100jährigen Bestehen werden unter anderem aktuelle Herausforderungen in der Priesterausbildung thematisiert.

P. Tertünte feiert in übervollen Kirchen Gottesdienst, sieht aber auch Folgen der Landflucht in Südbrasilien,  die dazu führt, dass die junge Generation der Kirche fernbleibt. Einmal erlebt er auf eindrucksvolle Weise, wie die Gemeinschaft der Glaubenden Trauernden hilft, mit dem Tod von Angehörigen besser umzugehen. Er macht sich Gedanken darüber, worin sich Herz-Jesu-Priester aufgrund ihrer Ordenszugehörigkeit möglicherweise von Diözesanpriestern unterscheiden, und beschreibt, wie in brasilianischen Kirchengemeinden notwendige finanzielle Mittel beschafft werden, da es ja keine verlässlichen Kirchensteuer gibt.

Foto © scj.de: Gottesdienst in unserer Pfarrei in Brusque, Sao Luiz Gonzaga

Hier die ausführlichen Schilderungen von Pater Stefan Tertünte SCJ:
Sonntag, 10.03.204 -  Kirche ohne Kirchensteuer

In Deutschland wird immer wieder über die Kirchensteuer diskutiert. Sie ist ein weltweit einzigartiger Weg der Kirchen-Finanzierung. In Brasilien gibt es sie nicht. Dementsprechend bemüht sich die Kirche, insbesondere die Pfarrgemeinden, auf unterschiedliche Weise darum, Gelder für den Unterhalt von Beschäftigten und Räumen und vor allem für zahlreiche Aktivitäten der Gemeinde aufzutreiben. Ein kleiner, unvollständiger Überblick über das, was sich Pfarrgemeinden hierzulande einfallen lassen:

Sonntag. Beim Eintritt in die Kirche werde ich freundlich begrüßt. Gleichzeitig bekomme ich einen postkartengroßen Zettel, auf dem mich zwei freundlich lächelnde junge Menschen daran erinnern, meinen Kirchenzehnten an die Pfarrei zu bezahlen. Der Name Kirchenzehnter ist uralt, zenn Prozent des eigenen Vermögens müssen es nicht sein, aber doch schon ein spürbarer Beitrag. Ich setze mich in die Kirchenbank – und schaue direkt auf einen QR-Code, der ungefähr alle zwei Plätze angebracht ist. Einmal abgescannt, und ich lande beim Überweisungsformular für den Kirchenzehnten: Kreditkarte, Guthabenkarte oder per Pix-Schlüssel…

Heute ist der zweite Sonntag im Monat, da wird im Gottesdienst noch einmal besonders darauf hingewiesen, dass der Díximo, der Kirchenzehnte, ein Akt der Liebe ist, mit dem viele Aktivitäten der Gemeinde, egal ob Katechese oder Sozialwerke, finanziert werden.

Am Ende des Gottesdienstes findet eine Lotterie statt: Viele Gemeindemitglieder haben ihren Kirchenzehnten-Beleg in eine Box geworden, aus der der Priester einen herausfischt. Glücklicherweise ist die betreffende Person auch im Gottesdienst und kann sich unter dem Applaus der Gottesdienstbesucher ein kleines Präsent, eine Figur der Gemeinde-Patronin Santa Rita von Cassia, abholen. Nach Ende des Gottesdienstes bleiben auf den großen Bildschirmen, die während der Messe vor allem die Liedtexte lesbar machen, wieder freundliche und professionell gemachte Einladungen zur Bezahlung des Kirchenzehnten.

Auf dem Vorplatz der Kirche riecht es schon köstlich, und ich folge dem Geruch in den Pfarrsaal, der gut und gerne 1000 Menschen fassen kann. Eine kleine Armee von Ehrenamtlichen, fast ausschließlich Frauen, fertigen hier ein brasilianisches Nationalgericht, Pastel, eine Art Frühlingsrollen an. Köstlich – und wahlweise mit Käse oder Fleisch gefüllt.

Die Aktion dient vor allem dazu, der Pfarrei für eine Renovierung der Katecheseräume Gelder zu verschaffen. Einmal im Monat läuft drei Tage lang eine noch wesentlich größere Aktion: 25 Frauen backen unter professionellen, vom Gesundheitsamt abgenommenen Küchenbedingungen eine Unzahl von Kuchen, Broten, Plätzchen etc. Den ganzen Tag über kommen und gehen Menschen, um ihre bestellten Waren abzuholen. Während die Frauen für das Backen zuständig sind, stehen an zwei Kassen jeweils zwei Seminaristen, die die Bezahlungen abwickeln, nach Wunsch auch mit der Kreditkarte. Ebenfalls die Seminaristen haben am Ende eines Tages die Aufgabe, die großen Räumlichkeiten blitzblank zu säubern. Wenn man bedenkt, dass unsere Pfarrei nicht die einzige Einrichtung ist, die monatlich eine derartige Kuchen-Aktion abhält, kann man die Sorgen der Bäcker vor Ort verstehen…

Mit diesen Beispielen habe ich nichts darüber gesagt, wie gut das kirchliche Leben durch die verschiedenen Beiträge von Gläubigen finanziert werden kann. Dazu weiß ich zu wenig. Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen den Gemeinden, in einer Favela in Rio de Janeiro wird nicht soviel zusammen kommen wie in einer Innenstadtpfarrei von Curitiba. Übrigens geht vom Kirchenzehnten nur zehn Prozent an den Bischof, 90 Prozent bleiben in der Pfarrgemeinde. Die dann u.a. dafür zuständig ist, das Leben der Priester zu finanzieren. Wobei die beschriebenen Beispiele nicht unbedingt alle an einem Sonntag in einer Pfarrei stattfinden müssen.

In diesem Zusammenhang bin ich noch einmal neu auf die Kirchengebote gestoßen, deren Fünftes in Deutschland doch eher unbekannt ist, hier aber sehr konkret gelebt wird: „Die Gläubigen sind verpflichtet, ihren Möglichkeiten entsprechend zu den materiellen Bedürfnissen der Kirche beizutragen“.

Mein – sicherlich oberflächlicher – Eindruck ist, dass die Gläubigen hier sehr selbstverständlich und selbstbewusst die Finanzierung ihrer Kirche auf sehr unterschiedliche Weise angehen.

Über Herz-Jesu-Priester und andere Priester

Es ist Sonntagabend, großer Gottesdienst in der Gemeinde Herz Jesu in Gravatal (Santa Caterina). Zahlreiche Gemeindemitglieder, der Provinzial von Südbrasilien, der Ortsbischof – ein Ordensmann – Dom Adilson. Und neben anderen Mitbrüdern auch ich. In der Eucharistiefeier wird unser Mitbruder, P. André, vom Bischof als neuer Pfarrer eingesetzt. Gleichzeitig wird die Pfarrei der südbrasilianischen Provinz der Herz-Jesu-Priester anvertraut. Mit der Verpflichtung, sie auch jeweils mit Personal zu besetzen.

Von den Worten P. André‘s an seine neue Gemeinde verstehe ich nicht sehr viel, aber der vertraute Ausdruck „Sint Unum“ taucht immer wieder auf und der Gedanke, Gemeinschaft zu fördern. Später werde ich erfahren, warum dies wichtig ist. Nach dem Gottesdienst, bei einem Empfang für alle Mitfeiernden, kommen zwei Pfarreiangehörige auf mich und P. Renato zu. Sie bedanken sich überschwänglich, dass wir Herz-Jesu-Priester nun in dieser Gemeinde sind. „Wissen Sie, die Diözesanpriester vorher, die haben wir fast nie gesehen. Sie haben die Messe gelesen, und danach verschwanden sie schnell, richtig gewohnt hat der Pfarrer gar nicht hier. Und Zeit für Gespräche und Beichten schon gar nicht. Da waren die ersten Wochen von P. André schon ganz anders. Und wir sind einfach glücklich darüber!“

Immer wieder taucht in den vergangenen Wochen in Gesprächen mit dem Provinzial und anderen Mitbrüdern dieser Unterschied zwischen Herz-Jesu-Priestern und Diözesan-Priestern auf: „Wir sind einfach näher dran an den Menschen“, sagt der Provinzial P. Sildo, „große Zugewandtheit, für Beichte und Gespräche zur Verfügung stehen und Spiritualität anbieten oder ermöglichen, das sind oft Charakteristika von Ordenspriestern wie den Dehonianern im Vergleich zu Diözesanpriestern“.
Nun hinken Generalisierungen immer etwas: Ich habe auch dehonianische Pfarrer erlebt, die mehr Zeit vor Computer und Fernsehen verbringen als mit Gemeindeangehörigen. Über Diözesanpriester kann ich mangels Erfahrungen gar nichts sagen. Aber Generalisierungen, Klischees, bringen auch Teile von Realität auf den Punkt.

Gewiss, die Herz-Jesu-Priester haben es etwas leichter: Sie sind in jeder Pfarrei mit mindestens zwei Mitbrüdern, oft auch zu dritt oder mehr präsent. Der Diözesanpriester ist oft auf sich alleine gestellt – und möchte das in der Regel auch genau so. In unseren größeren Pfarreien im Süden wie in Jaraguà do Sul, Joinville, Brusque, gibt es so gut wie jeden Tag das Angebot zu Beichte und Gespräch. Und fast immer sitzt jemand im Pfarrsekretariat und wartet darauf, dass er oder sie an der Reihe ist.

Und wie sieht das in Deutschland aus? Da müsste man zunächst die Menschen fragen, die uns begegnen, mit denen wir unterwegs sind. Wir wollen uns nicht von Diözesanpriestern abgrenzen, wir wollen schlicht den zu uns Dehonianern passenden Stil des Miteinanders mit den Menschen finden und leben.

In diesem Sinn haben wir auf unserem letzten Provinzkapitel im Januar einige Grundsätze in Worte gefasst. Da heißt es unter anderem „Mit offenem Herzen begleiten wir Herz-Jesu-Priester Menschen und bieten gastfreundliche und spirituelle Oasen an, wo Fremde zu Geschwistern werden können.” Und weiter heißt es „Sind wir den Menschen nahe?“ und „Werden Menschen bei uns in der Jüngerschaft gestärkt?“

Das kommt dann schon dem nahe, was die brasilianischen Mitbrüder über sich selbst sagen. Wobei uns in Deutschland klar ist, dass diese gerade genannten Sätze schon etwas darüber aussagen, „wie wir sind“. Mehr noch jedoch sind sie Erinnerung und Wunsch nach einer Präsenz, die unserem Charisma entspricht und die wir gerne leben möchten.

Montag, 04.03.2024 - Die Folgen der Landflucht

Wir fahren in den südlichsten Bundesstaat Brasiliens, Rio Grande do Sul, bekannt für seine starke landwirtschaftliche Prägung und – früher einmal – für die zahlreichen Ordensberufungen, die für die Herz-Jesu-Priester von hierher kamen. Das war einmal, und warum das so ist, dazu später mehr.

Wir werden zwei Tage lang in Nova Candelária sein, wenige Kilometer entfernt von der Grenze zu Argentinien im Westen. Schon auf dem Weg hierhin wird das Besondere dieses Bundesstaates deutlich: Sojafelder ohne Ende. Doch so sicher wie in der Vergangenheit sind die Einnahmen durch die Soja-Ernte nicht mehr. Der Klimawandel macht sich durch unkalkulierbare Regenfälle bemerkbar – und deren Ausbleiben. Die Folge ist die Landflucht vor allem der jungen Generationen, die die großen Städte wie Porto Alegre bevorzugen. Sowohl die Zivilgesellschaft als auch die Kirche bekommen diesen Wegzug der jungen Menschen bitter zu spüren. Eine gewisse Traurigkeit liegt über vielen Orten hier.

Beim Hereinfahren nach Nova Candelária werden wir von einem Riesenplakat begrüßt, „Schweinefest“ steht in Riesenlettern darauf und lädt dazu ein. Leider außerhalb unseres Besuches. Und dann begegne ich einer ‚kulturellen Prägung‘, die ich so nicht einmal aus Deutschland kenne: Alle Strommasten der Hauptstraßen sind schwarz-rot-gold bemalt. 90 Prozent der Bevölkerung sind deutschstämmig, und das macht sich bemerkbar. Am ersten Abend sind wir bei einer recht jungen Familie zum Abendessen eingeladen, die sich ohne Probleme mit mir im Hunsrück-Dialekt-geprägten Deutsch unterhalten. Auf die deutsche Herkunft ist die Familie ebenso stolz wie darauf, dass Nova Candelária die höchste Pro-Kopf-Schweinezahl Brasiliens aufweist: ca. 2.500 Schweine pro Einwohner gibt es in der Gemeinde. Und ehrlich gesagt – man riecht es.

In der Kirche bekommen wir es mit berufungsstarker Vergangenheit und problematischer Gegenwart zu tun: Eine eigene Bildtafel erzählt von den vielen Ordensberufungen (Männer und Frauen), die aus diesem Ort, nicht einmal 3.000 Einwohner stark, hervorgingen, insbesondere für die Herz-Jesu-Priester. Ich erkenne P. Jaime Ludwig, mit dem ich in Rom in einer Kommunität gelebt habe, die Brüder Weizenmann, von denen P.  Jacinto in Berlin lebt und arbeitet, und einige andere Herz-Jesu-Priester.

Die Gegenwart der Pfarrgemeinde sieht weniger erfreulich aus: „Mittlerweile kommen zu den Gottesdiensten fast nur noch ältere Menschen“, erläutert der Pfarrer, unser Mitbruder P. Gilbert Luiz Miranda. Jugendliche kommen weder in den Gottesdiensten noch in der Gemeindepastoral vor. Eine neue brasilianische Realität in einem Land, in dem ich bisher vor allem generationenübergreifend gut besuchte Gottesdienste erlebt habe.

Gefragt nach den Gründen werden vor allem zwei angeführt: Da ist zum einen die oben beschriebene Landflucht der jungen Leute. Rio Grande do Sul wird in wenigen Jahren der erste Bundesstaat in Brasilien sein, dessen Bevölkerung schrumpft. Zum anderen ist Rio Grande do Sul wesentlich schneller und stärker von der sogenannten Säkularisierung erfasst worden als der Rest Brasiliens – Menschen richten sich ihr Leben schlicht ohne Gott ein. Das hört sich schon sehr nach Europa an. Und tatsächlich wird oft dieser Vergleich gebraucht, um zu erklären, dass Rio Grande do Sul so ist, wie es ist.

Aber es gibt auch andere Entwicklungen: Am nächsten Wochenende wird sich die „Dehonianische Jugend“ unserer südbrasilianischen Ordensprovinz in Tuparendi, gut 60 Kilometer von hier zu einem zweitägigen Treffen versammeln: über 200 Jugendliche aus verschiedenen dehonianischen Pfarreien Südbrasiliens sind angemeldet.

Dienstag, 20.02.2024 - Eine Gemeinschaft von Glaubenden, die trägt

Es ist ein ganz normaler Dienstagabend, um 19 Uhr ist Abendgottesdienst in unserer Pfarrei Sao Vicente Ferrer in Formiga (Minas Gerais/BRA). Die Menschen strömen geradezu in die Kirche. Auch seitlich aufgestellte Stühle und Bänke sind bis auf den letzten Platz ausgefüllt. Ich schaue mich um und überschlage: ca. 350 Gottesdienstbesucher, darunter etliche junge Paare. Hier gehöre ich eindeutig zu den Senioren im Gottesdienst.

Die Eucharistiefeier wird geleitet von unserem Mitbruder P. Eligio Stülp. Ein Hund legt sich aufreizend gemütlich in den Mittelgang. Jeder Dienstagabend ist speziell den Verstorbenen der letzten Tage und Wochen gewidmet. Fünf von ihnen werden schon vor dem Gottesdienst mit Namen genannt. Auch während der Messe verweist P. Eligio immer wieder auf unsere Solidarität im Gebet und in konkreten Taten tröstlicher Nähe zu den Trauernden.

Am Ende des Gottesdienstes werde ich, für mich überraschend, von meinem Mitbruder aus der Bank heraus nach vorne gebeten. Kurze Vorstellung, ein paar Worte meinerseits über die brasilianische Gottesdiensterfahrung für einen Deutschen.

Dann kommt das eigentlich Wichtige: Mein Mitbruder liest die Namen der kürzlich Verstorbenen vor und lädt die anwesenden Verwandten nach vorne vor den Altar ein. Mal mehr, mal weniger kommen, am Ende stehen etwa 30 Menschen zusammen vor dem Altar und im Angesicht der Gottesdienstgemeinde. Viele von ihnen sind von Trauer gezeichnet, Tränen laufen auch in diesen Momenten über Gesichter. Ein Baby ist dabei, dessen Mutter eben vor gut einer Woche gestorben ist. P. Eligio sagt ein paar Worte des Trostes und geht dann zu jedem Trauernden, schüttelt die Hand und drückt sein Mitgefühl aus mit Worten ungefähr wie „Mis sentimentos“.

Ich überlege kurz, was ich nun tun soll. Und entscheide mich dann, es meinem Mitbruder gleich zu tun. Blicke begegnen sich, Hände werden einander gereicht, ein paar Worte, bei den Kindern vielleicht ein Segensgestus. Und dann braust noch ein Applaus der ganzen Gottesdienstgemeinde auf, auch eine Form, Solidarität zu bezeugen. Ich schaue kurz in die Kirche hinein und stelle fest, dass kaum einer vor dem Applaus die Kirche verlassen hat. Eine eindrucksvolle Weise, mit Verlust und Trauer umzugehen, quasi als Gemeinschaft von Trauernden in der Gemeinschaft der Glaubenden.

Ein Nachschub ganz anderer Art: Am nächsten Tag gehe ich kurz mit P. Cleber durch die Straßen Formigas. Eine junge Frau geht an uns vorbei, dreht sich auf einmal zu uns um und fragt mich auf Englisch: „Woher kommen Sie?“. Ich sage, ehrlich überrascht: „Aus Deutschland“. „Dann wünsche ich Ihnen eine schöne Zeit in Minas Gerais“. Während sie sich entfernt, sagt mein Mitbruder: „Und jetzt wird sie ganz schnell all ihren Freundinnen eine Nachricht schicken, dass Sie einen echten Ausländer kennen gelernt hat…“

Samstag, 17.02.2024, und Sonntag, 18.02.2024 - Ewige Gelübde und Diakonenweihe

Samstag und Sonntag stehen ganz im Zeichen der Ewigen Gelübde und der Diakonweihe von sieben brasilianischen Mitbrüdern. Für die drei brasilianischen Provinzen eine eher geringe Zahl, aber für die nächsten Jahre gehen sie fest von höheren Zahlen aus…

So fahren wir also nach Varginha und Lavras im Bundesstaat Minas Gerais. Der Bundesstaat Minas Gerais ist der zweitgrößte Bundesstaat Brasiliens (so groß wie Frankreich) und hat ca. 22 Millionen Einwohner. Für uns Herz-Jesu-Priester ist er von großer Bedeutung: Die meisten Mitbrüder der Provinz Brasilien Sao Paulo kommen daher, auch P. Levi und P. Julio Ferreira. In der Stadt Lavras haben wir Dehonianer ein sogenanntes „kleines Seminar“ – für uns Deutsche eine mittlerweile unbekannte Einrichtung: Mit ca. 14 oder 15 Jahre treten die Jugendliche hier ein, absolvieren die letzten zwei oder drei Jahre der Schulausbildung an einer Schule in der Nähe und leben bei uns wie in einem Internat. P. Ademir erklärt mir, dass das kleine Seminar funktioniert, zumindest noch funktioniert: „Vor dreißig, vierzig Jahren war es für ärmere Familien fast die einzige Möglichkeit, ihre Kinder zum Abitur zu bringen. Heute ist das keine Motivation mehr, weil es viele andere Möglichkeiten gibt. Es ist eher ein erster Wunsch, ein Interesse am Priester- und Ordensleben seitens der Jugendlichen, der die Eltern bewegt, die Kinder bei uns anzumelden.“

Im Zuge einer höheren Sensibilisierung für die Missbrauchsproblematik auch in Brasilien ist die Arbeit im Seminar schwieriger geworden – immerhin sind es mehrheitlich Minderjährige. Regelmäßige Gespräche mit Psychologen gehören ebenso zum Programm wie konkrete Verhaltenskataloge zum Thema „Nähe und Distanz“. Letztere ist jedoch gerade für junge „Mineiros“ (Einwohner von Minas Gerais) eher schwierig und betrifft vor allem die Erzieher. Momentan sind 16 Jugendliche im kleinen Seminar. Für viele von ihnen bin ich der erste Ausländer, dem sie begegnen. Ich werde mit Fragen bombardiert: Wie sind die Kartoffeln in Deutschland? Wie hast du die 1:7 Niederlage Brasiliens erlebt? Wieviel Seminaristen habt ihr in Deutschland? Was machen Dehonianer in Deutschland? Und viele Fragen mehr… Und fast jeder versucht, mehr oder weniger große Brocken von Fremdsprachenkenntnissen anzuwenden, sei es Englisch, Deutsch oder Spanisch. Es sind sympathische Begegnungen und ein kurzzeitiges Eintauchen in eine für uns mittlerweile ferne Welt von Berufungspastoral.

Samstag steht die Feier der Ewigen Gelübde, Sonntag die Diakonweihe der sieben Mitbrüder auf dem Programm. Ungefähr 600 Personen passen in unsere Pfarrkirche Sant’Anna – und sie ist beide Male bis zum letzten Platz und darüber hinaus gefüllt. Die Liturgie wird in einer Weise gepflegt, wie ich es von Deutschland nicht kenne. Ein Mitbruder ist Zeremonial, ein anderer liest jeweils Hinweise zu den einzelnen Liturgieteilen vor, ein Mitbruder sorgt dafür, dass die Alben der während der Allerheiligen-Litanei am Boden liegenden Mitbrüder perfekt gefaltet sind, selbst die kleinen Kopfkissen zur Kopfablage während der Allerheiligenlitanei sind noch mit unserem Dehonianer-Logo bestickt. Und das Evangeliar wird nicht einfach mit zwei Kerzen begleitet, sondern von deutlich über zwei Meter großen oben vergoldeten Kerzenhaltern… Mit Inbrunst wird gebetet und gesungen, mit Inbrunst wird geklatscht: Als die Kandidaten sagen „Hier bin ich“, direkt nach der Gelübdeablegung bzw. der Diakonweihe, nach jeder Danksagung am Ende der Liturgie. Als die Mitbrüder zur Ablegung der Gelübde in den Altarbereich gerufen werden, „verabschiedet“ sich jeder von ihnen ziemlich dramatisch von seinen Eltern und engsten Verwandten.

Irgendwie merkt man allen Beteiligten auch die immense Freude gegen Ende eines sehr langen Ausbildungsweges an: Mindestens zwölf Jahre dauert bei uns die Ausbildung bis zur Priesterweihe. Das würde in einem Bistum deutlich schneller gehen. Von daher hat alleine die Entscheidung, bei uns den Berufungsweg zu gehen, schon eine hohe Aussagekraft. Nach dem Gottesdienst gibt es bei uns im Seminar ein groß angelegtes Essen – für mehr als 400 Personen. Gekocht und aufgetischt wird das Ganze von der Gruppe „Familienpastoral“ in unserer Gemeinde. Und das müssen bei dieser Anzahl von Gästen schon ziemlich viele sein. Beim Essen stand im Vordergrund nicht die Festtagsqualität des Essens, sondern die Möglichkeit, möglichst viele Gäste bewirten zu können. Gut so!

Das ganze erinnerte mich an ein Mittagessen einige Tage zuvor in Varginha, dem Geburtsort von P. Cleber, in unserer Pfarrei. Das Essen für uns zwei Gäste war schon sehr reichhaltig. Als wir gerade begonnen hatten, grüßte und verabschiedete sich freundlich ein Mann von ca. 50 Jahren. Es stellte sich heraus, dass er ein Ehrenamtlicher aus der Pfarrei ist, der immer wieder gerne und sehr gut bei Veranstaltungen der Pfarrei kocht. Im ‚normalen‘ Leben ist er ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Das sind Konstellationen von Ehrenamtlichen-Engagement, die wir aus Deutschland kaum kennen. Tatsächlich belebt das Engagement von zahllosen Ehrenamtlichen die Pfarreien auf vielfältige und eindrucksvolle Weisen.

Freitag, 16.02.2024

Noch einmal stand der Tag ganz im Zeichen der 100-Jahr-Feiern der Faculdade Dehoniana in Taubaté. Der Vormittag war fast ausschließlich ein "akademischer Tag": Studenten und Lehrpersonal waren eingeladen zu einer Reihe von Vorträgen - über Chancen und Herausforderungen von ausländischen Priestern in der Kirche der USA durch den Provinzial der USA-Provinz, P. Vien SCJ; über aktuelle Herausforderungen in der Priesterausbildung, insbesondere durch neo-konservative Tendenzen unter Priesteramtskandidaten durch den Rektor der Sacred Heart School of Theology in Hales Corners (USA) Fr. Raúl Gómez-Ruiz SDS; über die Rolle der Theologie in der Priester- und Ordensausbildung durch unseren Generaloberen P. Carlos Luis Suárez Codorniú. Ich selbst hatte einen Vortrag zu halten über die Leidenschaft Pater Dehon's für die Studien.

Danach wurde das kleine Verlagshaus "Editora SCJ" eröffnet, deren Büros sich in der Faculdade Dehoniana befinden. Bei dieser Gelegenheit wurde noch einmal Pater Zezinho erwähnt und geehrt, der viele Jahre im Bereich Kommunikation des Glaubens durch neue geistliche Lieder engagiert und ein echter Pionier in diesem Bereich war. Zu seinen Konzerten kamen mitunter mehr als 50 000 Menschen. Und es ist schon sehr beeindruckend, wenn jemand nur ein paar Noten seiner Lieder anstimmt und dann der gesamte Saal mit Inbrunst mitsingt. In einem abendlichen Gespräch mit ihm, mittlerweile 82 Jahre alt, macht er seine Sorgen angesichts der Ausrichtung des Priesternachwuchses deutlich und wiederholt häufig: "Zuviel Herz und zu wenig Hirn" und "Denken müssten sie lernen".

Klare Worte von einem Mann, der außerhalb Brasiliens oft als christlicher Schlagersänger belächelt wurde...

Donnerstag, 15.02.2024 - Über pastorale Herausforderungen in Deutschland und den USA

9.30 Uhr große Eucharistiefeier mit fünf Bischöfen, darunter als Vorsteher der Messe der Ortsbischof von Taubaté, Dom Wilson, kein Dehonianer. Don Murilo Krieger, Mitbruder und emeritierter Erzbischof von São Salvador da Bahia, hatte die Predigt übernommen. Zwar habe ich nicht das meiste verstanden – aber doch soviel, dass sehr, sehr oft die Rede von den deutschen Patres war. Immerhin waren sie es, die vor 100 Jahren den ersten Theologiekurs abgehalten und damit die spätere Theologische Fakultät gegründet haben.

Die Erinnerung an diese Generation deutscher Missionare ist eigentlich überall in Brasilien spürbar: In vielen Pfarreien, Seminaren, Fakultäten, in denen Herz-Jesu-Priester tätig sind, waren es deutsche Herz-Jesu-Priester, die am Anfang dieser Institutionen standen. Eine richtige deutsche Gründergeneration, die allesamt in sehr guter Erinnerung geblieben ist. Und alle diese Einrichtungen feiern in diesen Jahren 90 oder 100jähriges Bestehen.

Es ist für mich schon berührend, auf Schritt und Tritt sozusagen in Kontakt mit dem Engagement deutscher Mitbrüder zu kommen, deren oft bescheidene Anfänge nun wirklich schöne Blüten treiben. Dazu passt, dass in unserem Haus in Taubaté immer wieder alte Mitbrüder auf mich zukommen, um mit mir Deutsch zu sprechen. Sie selbst sind keine deutschen Mitbrüder, sondern schlicht Sprösslinge von deutschen Auswanderern im 19. Jahrhundert, in deren Familien sich in der Regel Hunsrückdialekte erhalten haben – bis heute. Und sie finden es so schön, mit einem richtigen Deutschen sprechen zu können. Und ich finde es auch.

Am Nachmittag dann, zusammen mit dem Generaloberen und dem Provinzial der US-Provinz und dem Dekan der Sacred Heart School of Theology in Hales Corners (USA) eine Begegnung mit den 30 Philosophiestudenten, die in einer eigenen Ausbildungskommunität leben. Zur Erklärung: Anders als in Deutschland gewohnt, studieren die jungen Ordensinteressierte zuerst Philosophie (3 Jahre), dann machen sie das Noviziat, dann ein zweijähriges Praktikum – und dann erst studieren sie Theologie (4 Jahre). Dementsprechend jung sind die meisten Philosophiestudenten.

Offensichtlich hatten sie gut Fragen vorbereitet, die sich um die pastoralen Herausforderungen in Deutschland und den USA drehten, um unsere persönlichen Berufungsgeschichten etc. Nach einem Rundgang und einem gemeinsamen Kaffee machten wir noch kurze Interviews für die neuen digitalen Medien. Auf einmal kam ein junger Student zu mir und bat mich um Übersetzungshilfe, weil er Dr. Paul Manson aus Hales Corners etwas sagen wollte: „Ich möchte, dass er weiß, wie mich seine Sätze getroffen und bewegt haben. Wie er als Laie und Familienvater sich auf das dehonianische Charisma einlassen kann; wie er seine Familie zurücklässt, um zu uns zu kommen. Wie gesagt, das hat mich bewegt und das soll er wissen und ebenso mein Dankeschön für sein Zeugnis“. Für manche Direktheit muss man vielleicht jung sein oder Brasilianer oder beides zusammen….

Mittwoch, 14.02.2023 - An der Dehonianischen Fakultät

Mittlerweile sind wir in Taubaté. Dort haben die Herz-Jesu-Prieser die sogenannte „Dehonianische Fakultät“, an der außer den Herz-Jesu-Priestern noch Mitglieder anderer Ordensgemeinschaften und Priesteramtskandidaten aus verschiedenen Bistümern Philosophie und Theologie studieren. Momentan studieren etwas über 50 Mitbrüder hier. Das sind, verglichen mit den zurückliegenden Jahren, geringe Zahlen. In Brasilien gehen die Nachwuchszahlen langsam zurück, noch ist nicht klar, was dies für die Fakultät bedeutet.

Am Nachmittag hatte ich in der neu gestalteten Aula magna ein Treffen mit den Studenten und eine gute Stunde Zeit, um ihnen die Mission der Dehonianer in Deutschland vorzustellen und über die Brasilianer zu sprechen, die in Deutschland leben und wirken. Die Provinzleitungen fördern solche Begegnungen, um dem jungen Nachwuchs mit auf den Weg zu geben, dass die Kongregation größer ist als nur Brasilien.

Direkt in der Veranstaltung gab es nicht sonderlich viele Nachfragen. Aber man merkte schnell, dass in manchem Mitbruder etwas arbeitete… Und so kamen dann im Laufe des Tages durchaus Fragen bei mir an wie z.B. „Sind in Deutschland wirklich alle Kirchen leer oder die Gottesdienstbesucher alt?“ – „Wie steht es jetzt um das Schisma in Deutschland“ – „Wie soll man vorgehen, wenn man nach Deutschland in die Mission möchte?“

Der abendliche Aschermittwochgottesdienst in einer unserer Pfarreien war dann tatsächlich ein Kontrasterlebnis zu herkömmlichen deutschen Gottesdiensterfahrungen: Die Kirche war mit über 600 Gläubigen proppenvoll, und während ich in Deutschland regelmäßig zu den Jüngsten gehöre, war ich hier eindeutig ein Senior. Unter 600 Gottesdienstteilnehmenden so gut wie niemand, der eindeutig über 65 Jahre alt war… Von daher war mein Satz im nachmittäglichen Treffen, glaube ich, gut angebracht: Wer von Brasilien nach Deutschland geht, muss wahrscheinlich seine Erfolgskriterien radikal verändern.

Montag, 12.02.2023 - "Familienbesuch"

In der ersten Hälfte meines Besuches bin ich zusammen mit P. Cleber Sanches SCJ als Fahrer, Begleiter und Oranisator unterwegs. Er war einige Jahre zum Theologie-Studium in Freiburg, sein Deutsch ist auch nach so langer Zeit ausgezeichnet.

Heute stand der erste „Familienbesuch“ an. Morgens sind wir von Sao Paulo aufgebrochen in Richtung Campinas, keine zwei Stunden Autofahrt entfernt. Dort lebt die Familie von P. Paulo Henrique César SCJ, der zufälligerweise auch noch dort in Urlaub war. Wir wurden sehr herzlich empfangen, von den Eltern und dem Bruder von P. Paulo – und natürlich von P. Paulo auch. Auch die sehr gut mit der Familie befreundeten Nachbarn waren den ganzen Tag über dabei, inkl. Enkelkinder. Natürlich gab es ein immenses Mittagessen – und man muss schon eine Strategie entwickeln, um einerseits nicht kontinuierlich zusätzliche Kilo anzuhäufen und andererseits die Gastgeber nicht zu enttäuschen oder zu beleidigen: „Aber er isst ja fast gar nichts“… Nach Mittagessen und Spaziergang war dann noch Schachspiel mit einem der Enkelkinder der Nachbarn angesagt.

Es war ein durch und durch unkompliziertes und frohes Miteinander. Natürlich haben sich die Eltern, vor allem die Mutter, öfter für den Besuch bedankt. Vielleicht auch deshalb, weil sie gespürt haben, dass die Provinzleitung in Deutschland hinter P. Paulo steht und seine Anwesenheit in Deutschland sehr schätzt.

P. Paulo hat uns dann noch, und auch das war wichtig, im Stadtzentrum von Campino sozusagen an die Ursprungsorte seiner Berufung geführt, die Kathedrale, in der er getauft wurde und die Kirche, die als erste die Ewige Anbetung eingeführt hat – an der P. Paulo als junger Erwachsener oft teilgenommen hat. Für mich ist es immer wieder sehr bereichernd, unsere Mitbrüder in ihrem Familienumfeld zu sehen. Das ist ein wichtiges Mosaikteil im Verstehen der Mitbrüder.