
Provinzial Pater Stefan Tertünte SCJ reiste für zwei Wochen nach Madagaskar. Anlass waren die Feierlichkeiten zur 50jährigen Präsenz von Herz-Jesu-Priestern auf der viertgrößten Insel der Welt. Während seines Aufenthalts begannen die Proteste gegen die amtierende Regierung. Hier ist sein Bericht.
Ich saß in Paris am Flughafen Charles-de-Gaulle und wartete auf meinen Flug nach Madagaskar. Knapp zwei Wochen wollte ich dort anlässlich des Jubiläums mit den Mitbrüdern verbringen. Dazu hatte P. Jean Léonard Ramarofanomezana SCJ, der Regionalobere von Madagaskar, eingeladen.
Den Ausschlag zur Teilnahme gaben die mittlerweile vielfältigen Verbindungen der Deutschen Ordensprovinz nach Madagaskar: Wir unterstützen die madegassischen Theologiestudenten in Südafrika, mehrere madegassischen Mitbrüder haben in Freiburg in unserem Ausbildungshaus studiert oder tun es noch. Und in gutem Kontakt mit P. Bruno Razafimanantsoa SCJ haben wir den Aufbau einer neuen Schule in Andrebakely mitfinanziert. Mein Vorgänger, P. Heinz Lau SCJ, hatte in seiner Amtszeit einmal Madagaskar besucht – so wollte ich es auch halten.
Auf einmal tauchten auf meinem Smartphone Meldungen auf, dass der Flug nicht wie geplant durchgeführt werden könnte. Fast im gleichen Moment liefen über die Bildschirme am Flughafen die Nachrichten über Unruhen in Madagaskar, Proteste vor allem von Studierenden gegen die täglichen Ausfälle von Elektrizität und Trinkwasser, gegen die die Polizei gewaltsam vorging.
Letztendlich verschob sich der Flug um mehr als 10 Stunden. Der Grund dafür war eine mittlerweile verhängte abendliche und nächtliche Ausgangssperre, während der auch der Flughafen gesperrt war. So reiste ich also mitten in eine politische Krise hinein, die als Thema jeden Tag begleiten würde. Ich muss jedoch sofort sagen, dass ich mich bei meinen Mitbrüdern zu jedem Zeitpunkt in Sicherheit wusste. Nur über dem Rückflug wurde das Fragezeichen immer größer…
Madagaskar zählt 32 Millionen Einwohner, mehr als die Hälfte orientiert sich an Ahnenkult und Aninimismus, die Madegassen sprechen schlicht von „traditionellen Bräuchen“. 23 Prozent der Bevölkerung sind Katholiken - was aber nicht ausschließt, dass gerade im Ahnenkult traditionelle Bräuche auch durch Katholiken praktiziert werden.
Im Human Development Index der Vereinten Nationen wird Madagaskar auf Platz 183 geführt – von 193 Ländern weltweit. Das ist deutlich. Mobilität ist ein gut sichtbarer Indikator wirtschaftlicher Entwicklung: Die meisten Menschen in Madagaskar bewegen sich zu Fuß, um von Punkt A zu Punkt B zu kommen. Egal wo, viele Menschen gehen zu Fuß entlang der Straßenränder – um zur Schule zu kommen, zur Arbeit, zum Einkauf etc. Andersherum gibt es kaum Privatautos auf den Straßen. Und so geht die Mobilitätshierarchie: Ganz zu Fuß – Menschen-Rikscha – Fahrrad-Rikscha – Fahrrad – Moped - Taxi-Bus (= Minibus) – Bus – Auto.
Und, ach ja, die „Straßen“. Viele von ihnen haben schon bessere Zeiten gesehen. Wenn wir an einem Tag acht Stunden für 200 Kilometer brauchen, kann man sich den Zustand vorstellen. Der jetzt gerade kritisierte und letztlich dann aus dem Land gejagte Präsident war einst mit Hilfe der Militärs als junger Hoffnungsträger an die Macht gekommen. Die Menschen sehen jedoch ihre Situation eher so, dass sie – fast unvorstellbar – sich nur weiter verschlechtert.
Ein eindrucksvoller Beleg dieser negativen Entwicklung wird in der Begegnung mit Schwester Nadia von den Petites Servantes du Sacré-Coeur in einer unserer Pfarrgemeinden deutlich. Schwester Nadia ist als fertig ausgebildete Ärztin in ihre Ordensgemeinschaft eingetreten. In der medizinischen Anlaufstelle unserer Gemeinde berichtet sie von ihrer Arbeit mit Tuberkulose- und Leprakranken. „Wenn die Krankheiten rechtzeitig erkannt werden, ist eine Therapie möglich. Ab einem bestimmten Grad der Kontamination kann man kaum noch etwas tun“, sagt sie.
Was sie wirklich bedrückt: „In dem Stadtteil, in dem ich tätig bin, nehmen die Lepraerkrankungen stetig zu. Zum Teil sind ganze Familien kontaminiert.“ Auch ein Hinweis auf die sich weiter verschlechternden Lebensbedingungen.
Davor, sich selbst zu infizieren, hat sie keine Angst. „Ich versuche, mich an die gängigen Sicherheitsmaßnahmen zu halten. Und bis jetzt hat es mich noch nie erwischt“. Wie ruhig sie von dieser schwierigen Arbeit erzählt, das beeindruckt mich tief. Und gleichzeitig bin ich leise entsetzt über diese Realität.
Ein Mitbruder in unserer Pfarrei in Antananarivo will mir unbedingt die Kirche zeigen. Obwohl es eigentlich nicht um die Kirche selbst geht, sondern um die Säle, die Studenten zum Studium zur Verfügung gestellt werden. Sehr schlichte Räume, ausgestattet mit Holztischen und -stühlen, sonst eigentlich nichts, kein Schrank, kein Waschbecken, nichts.
Zunächst bin ich nicht wirklich überzeugt, als mir der Mitbruder erklärt, dass hierhin Studenten kommen, weil das eine der wenigen Möglichkeiten sei, in Ruhe zu studieren. Vielleicht merkt er meine Zurückhaltung, auf jeden Fall lädt er mich ein, mit ihm zu einer öffentlichen Studentensiedlung zu fahren und dort einige Studierende zu besuchen, die er kennt.
Was wir sehen, würden wir eher mit Baracken bezeichnen. Holz und Pappe unterteilen einen größeren Raum in mehrere kleinere. Diese wiederum, keine 9 Quadratmeter groß, müssen dann mehreren Studenten dienen – für alles: Kleiderablage, Bett, Studienunterlagen etc. Durch einen sehr schmalen Durchgang zwänge ich mich in einen der Räume, in dem vier Studierende uns freudig empfangen. Ihre Studienfächer sind sehr unterschiedlich: Sprachwissenschaft, IT-Wissenschaften, Management.
Eine 21jährige Studentin ist eine Art Wortführerin. Neben ihrem Studium muss sie für ihr zweijähriges Kind sorgen und noch Geld verdienen zur Finanzierung des Studiums. „Können Sie sich vorstellen, wie wir hier studieren sollen? Unmöglich! Und alles Kochen und alles Waschen muss ohnehin draußen passieren.“
Alle erzählen von den Protesten, die gerade die Hauptstadt und immer mehr andere Städte in Madagaskar erfassen. In einer Mischung von Wut und Euphorie erzählen sie davon, wie auch sie auf der Straße protestieren, wie sie gestern Abfall in Brand gesteckt haben, um eine Straße zu blockieren. Es geht nicht mehr um Strom- und Wasserausfälle: „Der Präsident muss zurücktreten. Es muss eine ganz neue Politik her!“
Gut einen Tag bin ich im Lande und schon mittendrin in einer Vielzahl von Problemen und Engagements!
Unsere Mitbrüder in der Region Madagaskar sind ungefähr 35 an der Zahl – und alle noch ziemlich jung. P. Bruno, der Gott sei Dank während meines ganzen Aufenthaltes mir zur Seite steht, möchte mich am liebsten zu allen Orten unseres Wirkens fahren. Das sind zum einen sehr viele Pfarrgemeinden, zum anderen etliche Bildungseinrichtungen: Drei Schulen und zwei Universitäten, die von uns geleitet werden.
Wenn ich dann höre und sehe, dass mitunter zwei Mitbrüder so große Einrichtungen leiten, dann schwanke ich zwischen Anerkennung und Entsetzen. Dass die wenigen Mitbrüder so viel schultern, das ist schon beeindruckend. Und gleichzeitig hoffen auch unsere Mitbrüder, dass mit dem vorhandenen Ordensnachwuchs bald mehr Herz-Jesu-Priester an den einzelnen Standorten wirken können.
Am Sonntag geht es, immer noch in Antananarivo, in eine Pfarrei der Herz-Jesu-Priester, Unsere Liebe Frau von Fatima. P. Bruno hatte den Pfarrer gefragt, welche denn die bestbesuchte Messe am Sonntag wäre. Die Antwort war eindeutig: Die um 6.30 Uhr morgens…
Und tatsächlich, die große Kirche ist um 6.30 Uhr bis auf den letzten Platz gefüllt, mit etlichen, die draußen per Lautsprecher den Gottesdienst verfolgen und mitfeiern. Menschen über 60 Jahre sehe ich in der Gottesdienstgemeinde kaum.
Die frühe Gottesdienstzeit hält die Menschen auch nicht davon ab, das zu tun, was sie immer wieder mit Leidenschaft machen: tanzen, im Gottesdienst und überhaupt. Und immer als eine Art Gruppentanz. Aber mit was für einer Energie und was für einer Eleganz – ich bin begeistert. Heute sind es zunächst die Kinder im Grundschulalter, aber so ein Gottesdienst hat ja viele Momente, in denen getanzt werden kann – das lerne ich hier.
Wir fahren von der Hauptstadt aus Richtung Norden. Dort finden an einem Wochenende die Hauptfeiern zu 50 Jahre Dehonianer in Madagaskar statt. Von allen Gemeinden und Schulen der Dehonianer machen sich Jugendliche und Erwachsene auf, um nach Imerimandroso zu kommen und zu feiern. Mitunter sind sie zwei Tage lang unterwegs. Mal kommen dreißig, mal über 100 aus einer Gemeinde.
Dass sich so viele Menschen auf den Weg machen, um zusammen mit uns zu feiern – wunderbar! Es kommen schließlich rund 1.500 Menschen zusammen, um samstags und sonntags zu feiern.
Hier treffe ich auch P. Martin wieder, der vor längerer Zeit einige Jahre in Freiburg studiert hat. Er steht gerade vor einem Stellenwechsel und soll demnächst in der Verwaltung einer unserer Universitäten mitarbeiten. An diesem Wochenende jedoch ist er zuständig für die Koordination der Küche – keine ganz leichte Aufgabe bei so viel Menschen.
Hinzu kommt allerlei Unvorhersehbares. So treffen Samstagabend 500 hungrige Teilnehmer ein, die niemand auf der Rechnung hatte – eine Kommunikationspanne. Aber auch diese zusätzlichen 500 hungrigen Münder werden – gleich der wundersamen biblischen Brotvermehrung – noch mal eben mitversorgt.
Am Samstagabend findet zunächst eine längere Anbetung statt, in deren Verlauf einige Mitbrüder, allesamt schon vor 50 Jahren dabei, von ihrem Leben als Missionare in Madagaskar berichten. Alles unter freiem Himmel.
Am Sonntag dann der große Festgottesdienst, gleich mit vier Bischöfen, darunter zwei Herz-Jesu-Priester. Sage und schreibe sechs Stunden dauert diese Eucharistiefeier – und es wird mir keinen Augenblick langweilig. Natürlich verstehe ich insbesondere von der Predigt nur einige Brocken, die mir P. Bruno auf Deutsch übersetzt, denn Madegassisch ist die Liturgiesprache.
Ganz unterschiedliche Tänze durchziehen den gesamten Gottesdienst – und schließlich hält es auch einen Großteil der Priester auf der Altarbühne nicht mehr an ihren Plätzen und fast alle stürmen auf die Wiese um mitzutanzen. Ja, auch ich… Sich in diese frohe Energie mit hineinzugeben, gibt unheimlich viel.
Schließlich, gegen Ende des Gottesdienstes, erfolgen unterschiedliche Danksagungen. Zu meiner Überraschung gilt eine davon auch mir – und sie wird ausgedrückt, indem mir eine lebendige Gans in die Arme gelegt wird. Ich versuche, nicht allzu hilflos zu erscheinen, und bald schon darf ich diese tierische Gabe weiterreichen.
Gegen Ende meines Aufenthaltes in Madagaskar fahren wir in einem Minibus zum Collège Léon Dehon (so heißen alle unsere Schulen hier) in Andrebakely. Maßgeblich wurde der Aufbau von P. Bruno geleitet und von den Wohltätern der Deutschen Ordensprovinz finanziert.
Obwohl P. Bruno nun in Freiburg zum Promotionsstudium ist, hat er doch aus der Ferne einiges an Willkommensaktionen organisiert. Wir steigen aus und werden von den gut 600 Schülerinnen und Schülern empfangen – natürlich mit Gesängen und Tänzen.
Die Gebäude scheinen wirklich in sehr gutem Zustand zu sein, der neue Basketballplatz sucht in der Umgebung seinesgleichen. Dann versammelt sich die gesamte Schulgemeinschaft, die madegassische Fahne wird gehisst und die Nationalhymne gesungen.
Ob Zufall oder nicht – ein Schulinspektor der regionalen Schulbehörde ist anwesend. Und er hält eine Lobrede auf die Qualität dieser katholischen Schule, die als einzige in seinem Zuständigkeitsbereich bestimmte Leistungsstandards erreicht. Wir werfen einen Blick in verschiedene Klassen, in die Bibliothek – und in den Kiosk. Dort können sich die Kinder in den Schulpausen für einen fast symbolischen Beitrag kleine Snacks holen.
Ich denke, nicht zum ersten Mal, dass es eigentlich ganz gut wäre, wenn unsere Schülerinnen und Schüler in Handrup mehr davon mitbekämen, wie Schule unter einfachsten Umständen aussehen kann. Und dann müssen noch unzählige Fotos gemacht werden. Ich bin froh, dass wir hierhergekommen sind. Dass wir mit eigenen Augen sehen durften, wieviel Gutes dort möglich ist.
Überhaupt: Es ist eindrucksvoll, wie Ordensmänner und -frauen im Bereich Gesundheit und Bildung tätig sind – und absolut notwendig sind! Mir scheinen diese Arbeit und ihre Finanzierung eine gute Investition in eine bessere Zukunft zu sein!
Die Reise geht dem Ende entgegen. Jeder Tag wird begleitet von der Frage: „Wie sieht es bei den Protesten aus?“ Mittlerweile scheint die Position des Präsidenten ins Wanken zu geraten. Seine Regierung hat er bereits entlassen – aber das ist den Protestierenden nicht mehr genug. Egal, ob ich mit Ordensfrauen, Priestern, Bischöfen, Studenten oder anderen Menschen gesprochen habe. Alle waren sich einig: Der Präsident muss gehen. Für mich persönlich stellt sich die Frage, wie ich aus Madagaskar raus wieder zurück nach Europa komme.
Air France ändert seine Routen und Flugzeiten – und so komme ich nach knapp zwei Wochen wieder in Deutschland an. Mit zahllosen Eindrücken, mit mancher Nachdenklichkeit, mit großer Achtung vor dem, was Ordensfrauen und -männer, auch meine Mitbrüder, zum Guten dieses Landes leisten. Mit großer Dankbarkeit dafür, dass ich so viele Aspekte des Lebens unserer Brüder in Madagaskar miterleben durfte.
Zwei Tage später übernehmen Militärs die Macht in Madagaskar, stellen sich an die Seite der Protestierenden, der Präsident ist außer Landes. Und viele hoffen – mal wieder – auf eine Entwicklung zum Guten.